Rudi Cerne steht übereck an einem Stehtisch neben einem Kriminalkommissar, der Beweisstücke vorführt und erläutert, was es mit ihnen auf sich hat, und dazu einige an die Fernsehzuschauer gerichtete Fragen stellt, bevor Rudi Cerne zum nächsten Fall übergeht. Meine Anspannung steigt, meine Schultern verkrampfen sich, während mein Herz beginnt zu pochen, und ich frage mich, warum ich mir das antue. Warum schaue ich Sendungen wie Aktenzeichen XY ungelöst? Warum lese ich Krimis und Thriller? Je schneller mein Herz Beim Lesen auf dem Höhepunkt der Handlung schlägt, desto gruseliger empfinde ich das Buch und empfehle es weiter. Noch während ich der Spannungsauflösung nachfühle, kurz nachdem ich den Buchdeckel des soeben beendeten Thrillers geschlossen habe, wandere ich voller Vorfreude zum Stapel ungelesener Bücher und wähle den nächsten aus, der hoffentlich ebenso meine Nerven kitzelt wie sein Vorgänger. Ich frage mich, woher die Lust am Erleben von Angst und Anspannung stammt, die ich während des Lesens oder beim Anschauen der Sendung Aktenzeichen XY ungelöst empfinde? Wieso entsteht die Lust darauf, diese Erfahrung stets zu reproduzieren, wie ein Perpetuum mobile beständig seine Bewegungen wiederholt?
Ich konzentriere mich wieder auf den Bildschirm. In schwarz gekleidete, vermummte Gestalten huschen Deckung suchend zwischen Büschen und Bäumen über ein Grundstück, zielstrebig auf ein abgelegenes Haus zu. Die Kamera schwenkt auf ein älteres Ehepaar, die nebeneinander vor dem Fernseher sitzen und Aktenzeichen XY ungelöst schauen. Sieh an. Sie ahnen nicht, was vor ihrer eigenen Haustür geschieht und dass sie Opfer einer üblen Straftat werden. Aber ich weiß es und mein Adrenalinpegel steigt. Der erste Übeltäter ist am Haus angekommen und schlägt eine Scheibe ein, um sich Zutritt zu verschaffen. Ich schiebe das Kissen ein Stück höher bis unters Kinn und warte gespannt auf das, was als Nächstes geschieht mit der Frage im Hinterkopf, ob das Ehepaar den Überfall überlebt. Ich ertrage die Spannung kaum, gleichzeitig bin ich fasziniert und kann weder meine Augen hinter dem Kissen verbergen, noch den Fernseher abschalten. Warum ist das so? Ich erinnere mich an einen Hinweis auf Aristoteles aus einem Wikipediaeintrag, als ich Angstlust googelte.
Demnach sollte die griechische Tragödie Furcht und Mitleid erwecken, um zu einer Reinigung der Emotionen zu gelangen. Ist es das? Ist nicht etwa die Angst die Erregung, der ich nachjage, sondern ist es die Emotion, die der Angst folgt, wenn die Spannung nachlässt? Warum lese ich Thriller, die ich an mörderisch nervenzerreißenden Stellen nicht weglegen kann, obwohl die Spannung kaum auszuhalten ist und physische Symptome wie Herzrasen hervorruft? Warum wechsele ich im Verlauf des Fernsehkrimis, dessen Handlung sich auf dem atemberaubenden Höhepunkt befindet, nicht den Kanal?
Einem Bericht zu Folge empfinde ich mit Angst verbundene Lust. Eine ambivalente Gefühlslage, bei der aus einem bedrückenden Angstgefühl selbst oder aus ihrem erfolgreichen Überstehen oder Bewältigen ein lustvolles Erlebnis entsteht. Jeder kennt dieses Gefühl aus seiner Kindheit, nach einer bestandenen Mutprobe zu deren Bezwingen man seine Angst überwinden muss und sich als Folge ein emotionales Hochgefühl einstellt. Ich erinnere mich, als ich mit acht Jahren auf dem drei Meter Brett im ehemaligen Freibad in Wassenberg stand, vorgewagt bis an den Abgrund, die Augen stur geradeaus, nur nicht nach unten sehen, damit mein Wagemut sich nicht pulverisiert. Mit pochendem Herzen klemme ich meine nackten Zehen an das Ende des Bretts und starre auf die wirbelnde Wasseroberfläche. Meine Freunde, meine Feinde und diejenigen, die ich wahrhaft beeindrucken will, stehen am Beckenrand und sehen zu mir hoch. Die einen hämisch grinsend und „die schafft das ja doch nicht“, murmelnd. Die anderen mit einem ermutigenden Lächeln auf den Lippen und „du schaffst das“ im Blick. Ob ich in der Achtung derjenigen gestiegen bin, weil ich sprang, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls war die Spannung vor dem Sprung kaum erträglich und löste sich in Euphorie auf, als ich heil im Wasser angekommen war. Der Stolz darüber, dass ich mich getraut hatte, sprengte mir nahezu die Brust.
Laut Wikipedia ist die überstandene Angst die Grundlage für das anschließende Lustempfinden. „Angstlust verspürt man, wenn man sich freiwillig einer Gefahr aussetzt, aber von der Zuversicht getragen wird, die Gefahr und die damit Verbundene Angst zu bewältigen.“ „Die Mischung von Furcht, Wonne und Hoffnung angesichts einer äußeren Gefahr ist das Grundelement aller Angstlust.“
Die Märchen meiner Kindheit haben mir ebenfalls das Erleben von Angstlust beschert. Bereits als das Rotkäppchen mutterseelenallein in den Wald aufbricht, um die Großmutter zu besuchen, schwillt der Adrenalinspiegel, gleichermaßen das Herzklopfen. Die Angst steigert sich beim Auftauchen des bösen Wolfes, der Rotkäppchen auflauert, nachdem er die Großmutter gefressen hat. Ich empfinde Erlösung und Genugtuung, als am Ende der böse Wolf bestraft wird und Rotkäppchen Gerechtigkeit widerfährt.
Serienmörder, die oft und ausgiebig Thema in True Crime Beiträgen sind, lösen bei mir eine mit Grauen verwobene Faszination aus, weil eine vermeintlich sichere Barriere mich vor ihnen bewahrt. Doch was, wenn die Gefahr wie bei Aktenzeichen XY ungelöst, real ist? Oder die Bedrohung im Film kann so real wie austauschbar ins eigene Leben übertragen werden. Krieg, eine Pandemie (Corona), Hackerangriffe auf Infrastrukturen, Mikrowellen, als Waffe einer sogenannten Großmacht eingesetzt. Der Gegner und seine Vernichtungswerkzeuge bleiben unsichtbar und somit austauschbar durch alle möglichen Bedrohungen, und es bleibt ungewiss, gegen wen oder was ich mich verteidigen muss. Plötzlich beschleicht mich ein ungutes Gefühl bei dem Gedanken, falls die Zuversicht, die mich durch die Angst trägt, unbegründet ist, weil die Gefahr nicht abgewendet und damit die Angst nicht aufgelöst werden kann.
Zwei Szenen aus dem Film „Leave the world Behind“ sind mir ganz besonders in Erinnerung geblieben: Familienvater Clay (Ethan Hawke) zieht mit dem Auto los, nachdem diverse Ereignisse, der Familie klar gemacht haben, das etwas mit ihrem idyllischen Urlaubsort am Meer nicht stimmt. Langsam fährt er eine einsame Landstraße entlang und lässt den Blick über die angrenzenden Felder und den tiefblauen Himmel schweifen. Zahlreiche Szenenwechsel und die den Film begleitende Musik steigern die Spannung ins Unermessliche. Die Handlung springt wieder zu Clay, der die Stirn runzelt und den Mund öffnet. Langsam stoppt er den Wagen am Straßenrand. Die Kamera schwenkt auf eins dieser kleinmotorigen Flugzeuge, die Dünger auf Felder aufbringen. Dieses hier sprüht eine rote Flüssigkeit auf die Straße. Bleibt Clay, wird er unweigerlich von dem roten Regen erfasst. Er hat keine Zeit zu überlegen, um was es sich bei dem Sprühgut handelt, mir als Zuschauerin dagegen schon und mir fallen Flüssigkeiten wie Blut, Gift oder Säure ein. „Shit!“, flucht Clay, wendet hastig das Auto und flieht vor dem näherkommenden roten Regen. Mit der sich in seinem Gesicht ablesbaren Verwirrung und Panik hebt sich mein Spannungspegel, und atemlos beobachte ich, wie Clay im Rückspiegel seines Wagens geschehen lassen muss, dass das Flugzeug ihn einholt und er erwischt wird von der roten Kaskade.
Der Film endet damit, dass Tochter Rose einen sicheren Ort vor der Bedrohungslage findet, sich dort vor einen Fernseher setzt und in die Welt ihrer Lieblingsserie „Friends“ abtaucht, ungehindert dessen, dass der Rest ihrer Familie weiterhin in tödlicher Gefahr schwebt. Ist es das, was mir bleibt, wenn die Zuversicht zerbricht, dass nach dem Angsterleben keine Erlösung folgt und das Hochgefühl ausbleibt? Ich wende mich wieder der Sendung Aktenzeichen XY ungelöst zu. Rudi Cerne berichtet von den Spätfolgen des überfallenen Ehepaars, die sie durch die Gewalterfahrung erleiden, jedoch mit der Aussicht auf Genesung. Und ich ahne, auch wenn die Zuversicht schwindet, mir die Hoffnung bleibt.